Sonntag, 21. November 2010

Postkarte Internationale Gemeinschaft

Zum ersten Mal in meinem Leben verlasse ich die Jahreszeit. Zum ersten Mal entscheide ich mich dafür, eine Woche November gegen eine Woche Ewigen Frühling zu tauschen. Ich fühle mich schon beim Packen als Verräterin, als ich die Kisten mit Sommerkleidung hervorhole. Ach ja, dieser Rock, dieses dünne T-Shirt, das wird reichen, unglaublich, 24 Grad, das gibt es auch. Woanders. Draußen regnet es, das Fenster wird nur zum Lüften geöffnet. Während ich das schreibe, sitze ich schon auf der Insel, die wie ein Großer Kanarienvogel neben der Sahara im Atlantik schläft. Die Terrakotta-farbene Terazza blickt auf das jetzt dunkel daliegende Fischerdorf, das älteste hier, mit einem Wochenmarkt, von dem die überall ausliegenden Werbe-Landkarten behaupten, er sei sehr pittoresk und man solle seinen Fotoapparat bloß nicht nicht vergessen.

Ich möchte auch Fotos machen, ja! Und ich werde von diesem Markt berichten. Aber meine Fotoserien werden eine Reminiszenz an die Postkarten sein, die ich mir früher mit einem Freund schrieb: Türme oder turmähnliche Gebäude. Ich sammle jetzt auf meinen Spaziergängen diese Skulpturen, die in der Mitte der bepflanzten Roundabouts herumstehen, ich knipse Straßenschilder, Szenen, Strände. Wie viele gibt es hier, frage ich mich? Sie reihen sich an der Insel entlang wie Rüschen. Von der Inselstraße aus, die an den Klippen entlang führt, breitet sich das Meer aus, eine blaue Weite, mit Halluzination: der Vulkan in der Mitte von Teneriffa steigt aus den Wolken auf. Die Strände sind zugebaut mit Hotelburgen, die nachts von ferne glitzern. Einige werden jetzt in Appartments umgebaut, "se vende", zum Verkauf, aber niemand kauft seit der Krise.

Ich überlege, wie das wäre, hier zu überwintern. Würde ich ein Stammcafé haben und cortado doble trinken? Oder wäre mein Geld irgendwann alle und ich müsste am Strand übernachten, wie so einige Aussteiger hier? Mir war nicht klar, dass diese Sommerorte im europäischen Winter wie Parallelgesellschaften funktionieren: internationale Gemeinschaften mit Pensionseinkünften.

Z. B. norwegische Rentner: Lange wurden ihre Aufenthalte von der staatlichen Krankenkasse bezahlt, um ihre Knochenkrankheiten durch Sonne und Wärme zu heilen. Jetzt kommen sie auch privat in Scharen, kaufen Wohnungen, gehen in die norwegische Kirche, trinken viel, sind braungebrannt, tanzen ungelenk aber fröhlich wie Kinder in den englischen und irischen Pubs zu I can't get no satisfaction, während ein Bob oder ein Rob von Tipperary singt. Ich mag es, wenn Menschen tanzen. Menschen sollten mehr tanzen. Die Einheimischen sprechen nicht mit diesen Mitbürgern (den Touristen, den Expats, Festlandspaniern) außer an der Supermarktkasse "9.31 Euro", und sie gehen nicht in diese Musik-Kneipen, in denen Schals von schottischen, englischen und deutschen Fußballclubs hängen. Alle Musiker kennen sich untereinander, einer der jüngeren sagte einmal ein Konzert ab, weil es am fünften Todestag seiner Tante stattfand. Da kann er ja gleich alles absagen, wenn der Hund seiner Nachbarn krank ist, sagt meine Gastgeberin.

Im Restaurant Fusion findet der Sonntagsgig "Everything Elsa" statt, Folk mit Geige, Whistle und Gitarre. Elsas Fanclub besteht aus älteren Damen, aus der christlichen Gemeinde, die zu den Songs klatschen und juchzen, wenn Elsa erzählt, dass in Irland, besonders in Galway, Musik einfach plötzlich passiert, aus dem Nichts, je mehr aus dem Nichts, desto besser. An jeder Ecke dieses Cafés sitzt ein Buddha. Einer, ein goldenes Hologramm, verfolgt dich angeblich mit den Augen, egal, wo du bist. Aber ich schaue hin und denke: Dieser Buddha hat die Augen geschlossen. Wir sind nicht in Indien, nicht in Irland. Wir sind auf Gran Canaria. Auf dem Platz der Poeten hängen die Alkoholiker des Dorfes ab.

Weisheiten des Tages:
Das Beste ist der schlimmste Feind des Guten./ Lo mejor es el enemigo de lo bueno.
Nur wer sein eigenes Haus putzt, kann auf der Straße kehren./ Solo el que pone en orden su casa, puede areglar las cosas de la calle.



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